Vom Wandern.
Es ist 05:30 morgens. Ganz zart und heimlich lichtet sich der dichte Nebel, gerade so, als ob er sich des Nächtens die gewaltigen Geschichten der Berge anhören wollte und die Erzähler beschließen, sich eine Pause zu gönnen. Irgendwo unsichtbar, hinter den verwitterten Bergflanken, Sonnenstrahlen. Der Nebel – oder sind es Wolken – wandert immer schneller. Es ist wie eine jahrelang einstudierte mediative Tätigkeit, die täglich aufs Neue ihre große Aufführung probt. 4100m Seehöhe, man wittert, dass hier etwas Besonderes von Statten geht und sei es nur das Wirken der Thermodynamik, das sich im Talkessel des Annapurna Sanctuary zu entfalten vermag.
Dann plötzlich, man blickt auf. Man will nicht mehr warten, muss man auch nicht. Die optischen Reize gönnen mir keine Pause, man weiß eigentlich gar nicht, was man damit anfangen soll. Alles passiert irgendwie schneller als man denkt und doch so langsam. Zeit verliert an Bedeutung, die Gedanken verflüchtigen sich zaghaft, aber doch und machen es dem Nebel gleich, so als ob sie selbst nur Fetzen irgendeiner cerebralen Tätigkeit sind, die man eigentlich beständig mit sich mitträgt, ohne zu wissen warum. Dann Klarheit, die Luft plötzlich frisch, es riecht nach Wasser, Gebirge und Dingen, die man nicht benennen mag, weil es mir egal ist. 360 Grad, wohin man auch blickt: Riesenhafte Berge, Eis und Schnee, schmelzende Gletscher die im nahen Umkreis irgendwo hunderte kleine Wasserfälle entstehen ließen. Die mächtigen Gipfel sind das, was die Augen feiern, was man selbst irgendwie schwer fassen kann. Es ist wahrhaft ein unfassbares Gefühl. Man fühlt sich den Bergen plötzlich so nahe, sie überragen mich in unmittelbarer Nähe, man erkennt die feinen Konturen ihrer Eispanzer, ihrer Rücken. Und doch sind sie so fern. Der Gipfel der Annapurna, der mächtigsten Vertreterin ihrer Art an diesem Schauplatz überragt mein Erstaunen nochmal um 4000m und ich beginne, meine bisher vertrauten Verhältnisse von Berglandschaften neu zu skalieren. Plötzlich: Die großflächigen Moränenlandschaften scheinen bedrohliche Geräusche zu formulieren, die Gletschermassen auf dem Berg ebenso. Es ist ein tiefes, alles durchdringendes Ächtzen und man merkt einmal mehr, dass das junge Gebirge dann doch noch irgendwie in Bewegung ist.
Ca. 06:30 Uhr, die Nebelwolken haben wieder Überhand gewonnen: Sie beginnen erneut, die Spitzen zu umgarnen und finden – zart bekleidet wie sie sind – Anklang. Plötzlich ist alles wieder verhüllt, noch dichter als zuvor. Das Schauspiel hinterlässt mich im Nebel der Ungewissheit. Wie eine kafkaeske Aufführung, die man nicht gänzlich verstanden hat, wie ein Dialog, der abrupt endet. Dabei gibt’s wahrscheinlich gar nichts zu verstehen. Man muss nur realisieren, dass das, was ich gerade erblicken durfte, einfach nur schön ist.
Dabei sind es nicht nur die massiven, in Eis gehüllten Berggipfel und Grate, die einen für Momente zum Nachdenken anregen, es sind vor allem auch die kleinen Details am Wegesrand, ob Getier, Flora, Steine oder Menschen. Begegnungen, die mich zuvor in Unsicherheit wiegen, die immer vertrauter werden, solange, bis man vielleicht realisiert, warum man eigentlich wandert, warum man sich diese oft physische Qual eigentlich antut. Ich versuche, die Menschen hier zu verstehen, es fällt mir schwer, es erscheint unwirklich, fast surreal. Ich beginne, die Umwelt hier mit Landschaften aus Filmen, Serien oder Büchern zu vergleichen – dabei ist es doch nur die Realität. Eine Realität, die für Einwohner hier Lebensrealität bedeutet, eine Realität, die permanent verlangt, mit Widrigkeiten zurecht zu kommen. Hier oben in den Bergen, zwischen den Auswürfen der Vergletscherung, spielt sich das Leben am Limit ab.
Vom Helfen
Ich habe mich während meiner Reise in Nepal oftmals gefragt, wie man einem Land, das politisch, wirtschaftlich und topographisch auf instabilen Füßen steht, am nachhaltigsten, am sinnvollsten helfen kann. Das menschliche Elend, die Armut die hier in Nepal überall zu spüren ist (ca. 40% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze), regt jemanden zweifelsohne zum Nachdenken an. Man beginnt zu realisieren, dass die Menschen hier ein Leben führen, das für viele hier der Normalzustand ist, auch wenn es oft hart mit der Grenze zum existentiellen Limit liebäugelt. Dörfer, ja Stadtteile wirken wie Bilder aus einer anderen Zeit. Europäisches Spätmittelalter zum Angreifen. Nur der dem menschlichen Handeln inhärente Müll erinnert daran, dass man sich auch hier bereits im 21. Jahrhundert befindet.
Die Schäden des Erdbebens im April 2015 sind in vielen Regionen (auch in Städten) noch mehr als sichtbar – vielen NepalesInnen wurde die Lebensgrundlage entzogen und sie fristen nach wie vor ihr Dasein in notdürftigen, teilweise unwürdigen Unterkünften und müssen sich mit ihrer neuen Lebensrealität arrangieren. Gleichzeitig spürt man, dass Viele nicht aufgeben, sich nicht unterkriegen lassen, von vorne anfangen, sich rehabilitieren – auch wenn die Angst vor einem neuerlichen Beben groß ist.
Ich habe für mich beschlossen, dass ich dort helfen kann, wo es in meinen Augen sinnvoll war und begann, im Zuge einer Annapurna Umrundung mit Hilfe eines Fund Raisers, Geld für Erdbebenopfer zu sammeln. Des Weiteren begann ich, Schulen zu besuchen und entdeckte im Gespräch mit Direktoren und LehrerInnen, dass viele von ihnen keine geeignete Ausbildung haben. Anhand von „Teacher-Trainings“ versuchte ich, ihnen pädagogisches bzw. didaktisches Handwerkszeug zu vermitteln um ihnen Alternativen in ihrem teilweise sehr trostlosen Schulalltag aufzuzeigen.
Aus diesem Bedürfnis heraus, habe ich auch begonnen, meine Idee weiterzuspinnen und in Zukunft zu verwirklichen: Ich möchte es nepalesischen LehrerInnen ermöglichen, nach Österreich zu kommen (vice versa), und nicht nur einen pädagogischen, sondern auch einen kulturellen Austausch zu forcieren.
Vom Reisen
Viele Fragen, die sich im Laufe einer Reise aufdrängen, bleiben unbeantwortet. Gleichzeitig wird vieles realer. Plötzlich kann man auf etwas Bezug nehmen, plötzlich scheint es, als seien viele Schicksale nicht mehr so weit entfernt, wie man es sich vorher noch gedacht hatte. Man ist irgendwie fassungslos, voller Bewunderung und gleichzeitig froh, dass man selbst das Glück hat, in Österreich leben zu dürfen. Und so banal es auch klingen mag: Man beginnt, die einfachen Dinge des Lebens wieder voll zu schätzen.
Doch das vielleicht Wichtigste, das ich in Nepal erfahren durfte, ist das Wissen, dass man auch allein als Mensch Vieles bewirken kann. Es bedarf vielleicht ein bisschen Mut, sich zu überwinden, sich darauf einzulassen – schlussendlich ist es jedoch eine Erfahrung, an der man lange zehren kann, ein Erlebnis, das dich begeistert.
Für Rückfragen und weiterführende Informationen bin ich jederzeit gerne offen und freue mich auch über Anregungen. In Kürze werde ich meine Erlebnisse in Nepal auch im Zuge einer kleinen Präsentation im Petrinum zugänglich machen und freue mich über euren Besuch.
Harald Rechberger, MJ 2008
Artikel aus der PetrA-Ausgabe November 2016