Gesucht: ein abend-ländischer Wertekodex

Gesucht: ein abend-ländischer Wertekodex

Vornehmlich ausgelöst durch die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 sieht sich der alte Kontinent unvermittelt dazu herausgefordert, sich seiner Werte zu vergewissern. Eine vermeintliche Selbstverständlichkeit, aber: Wären diese Werte inhaltlich klar und jedermann aktuell bewusst, dann hätte es wohl nicht ein ganzes Jahr gedauert, bis (zumindest für abgegrenzte Kreise) sog. „Wertekataloge“ mit registrierbarer Breitenwirkung veröffentlicht wurden1 – denen allerdings jeweils keine Verbindlichkeit zukommt. Vergleichsweise rasch lassen sich demgegenüber die Hauptursachen für die fehlende Werteevidenz ausgemachen: Einerseits kennt unsere zentrale staatliche Grundnorm2 – im Unterschied zu anderen EU-Ländern – keine ausdrückliche Festschreibung solcher Werte, vielmehr waren deren Proponenten stolz darauf, dem damaligen Zeitgeist (Stichwort: „Logischer Empirismus – Wiener Kreis“) entsprechend eine „wertneutrale Verfassung“ geschaffen, sich also auf eine Verankerung von formal-organisatorischen Prinzipien (wie Demokratie, Republik, Bundesstaat) mit einem weitgehend inhaltsleeren Grundrechtskatalog3 beschränkt zu haben4, auf deren Basis die materiell-politische Konzeption vom jeweils Regierenden nach dessen eigenen Vorstellungen ausgestaltet werden konnte (und kann). Zu der sonach a priori fehlenden Garantie für wertemäßige Kontinuität und Stabilität gesellt sich andererseits, dass eine moralischen Autorität, die (wie früher z.B. politische Parteien, staatliche Organe, Kirchen oder verantwortungsbewusste Medien) in überzeugender Weise materielle Werte vorleben und vorgeben könnte, schon seit Jahrzehnten nicht mehr besteht. Dies lässt sich angesichts des verstärkt aufkeimenden Rückzugs in Kleingruppen („small is beautiful“, seien es „Eliten“, „Netzwerke“ etc. oder jüngst sog. „Staatsverweigerer“) erst recht auch auf die EU übertragen – mit der Besonderheit, dass dort faktisch die Eindimensionalität des ökonomischen Prinzips dominiert.

Unternimmt man angesichts eines solchen Befundes den Versuch, die Wertedebatte auf ihren systematischen Problemkern zu reduzieren, besteht dieser wohl in traditionell antagonistischen Auffassungen von Weltsicht: einer theistischen, die das menschliche Handeln als einem göttlichen Wesen gegenüber verantwortlich begreift und daraus die tragenden Normen für den Umgang miteinander ableitet, und einer atheistischen, für die lediglich die letztere Komponente maßgeblich ist; die gemeinsame Klammer für beide Standpunkte könnten die sog. „anthropologische Konstanten“ bilden, also ureigene, das Menschsein zeitlos charakterisierende Eigenschaften5 – allerdings werden gerade diese je nach Weltsicht jeweils verschieden gewichtet, sodass sie damit die eigentliche causa prima für Wertediskrepanzen verkörpern.

Um an diesem Punkt den eingangs angeführten „Debattenauslöser“ wieder aufzugreifen: Die gleichermaßen unerwartet wie massiv über Europa hereingebrochenen Flüchtlingsströme führten – wie stets und so auch aus wertemäßiger Sicht – zu Extremstandpunkten (nämlich: „Solidarität“ bzw. „Abschottung“) und dazwischenliegenden Vermittlungslösungen (z.B. „kontrollierte Integration“). Im gemeinsamen Focus, der je nach Standpunkt zu diesen unterschiedlichen Resultaten führt, steht das ökonomisch-marktwirtschaftliche Prinzip als jener Wert, der in der gegenwärtigen globalisierten Welt faktische Alldominanz aufweist, also auch alle anderen Werte inhaltlich präformiert (etwa: betriebswirtschaftliche Denkweise auch in „Non-Profit“-Organisationen [wie Krankenfürsorge, Seniorenpflege, Flüchtlingsbetreuung etc.). „America first!“ oder – auf etwas höherer moralischer Ebene – „Die Wahrung/Mehrung des Besitzstandes unter Exklusion von Dritten/Fremden ist deshalb gerechtfertigt, weil wir uns diesen durch eigene Leistung geschaffen haben“ sagen die einen, denen Argumente wie: „Weil die dritte Welt zufolge Ausbeutung, Ausschluss von Bildungsmöglichkeiten und Technologietransfer usw. keine Chance hatte, sich selbst etwas aufzubauen, ist auch die nunmehrige Integration von Wirtschaftsflüchtlingen ein kompensatorisches Muss“ entgegenhalten werden.

Unter dem Blickwinkel der ethischen Rechtfertigung erhebt sich damit die Frage: Handelt es sich beim ökonomischen Prinzip um einen absoluten, gleichsam zwingend durch die Wesenseigenheit vorgegebenen Wert des Mensch-Seins und lässt sich davon ausgehend dessen Vorrangstellung begründen? Zumindest Letzteres darf angesichts dessen, dass sich dieser Wert sehr langsam – beginnend mit der Magna Charta als entscheidendem Wendepunkt und der später daraus resultierenden Abkehr von Absolutismus und Feudalherrschaft – entwickelt und erst am Ende des vergangenen Jahrhunderts (nach dem Zerfall des Kommunismus) universell-dominant in den Vordergrund getreten ist, durchaus bezweifelt werden. Dies sollte jedoch (z.B. deshalb, weil durch das Suffix „-ismus“ gekennzeichnete unverrückbare Extrempositionen negativ konnotiert sind) nicht dazu verleiten, den heutigen Neoliberalismus ins Gegenteil zu verkehren oder gar in archaische Gesellschaftsmodelle zurückzuverfallen. Um eine breit akzeptierte Wertekonstitution zu erreichen, erscheint vielmehr rational-kritische Reflexion als Grundhaltung geboten – beispielsweise so, wie an alte Texte gebundene Religionen (Judentum, Christentum, Islam) vor der ständigen Herausforderung stehen, jene unter zwar geänderten Rahmenbedingungen, aber essentiell stets gleich bleibenden menschlichen Grundeigenschaften permanent aktuell halten und das dahinter stehende Ewiggültige herausschälen zu müssen. Gefragt ist also eine rationale Rückbesinnung auf traditionelle Wurzeln6 – nicht fortschrittsfeindlich, sondern mit maßvollem7 Blick auf das Machbare.

Eine solcherart aktualisierende/aktualisierte Bewusstseinsbildung bzw. -schärfung könnte zu wichtigen neuen Einsichten und letztlich auch zum Gelingen der Herausbildung eines nicht bloß milieubeschränkten, sondern in Gesamteuropa auch tatsächlich gelebten Wertebewusstseins führen, wie beispielsweise: „Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft“ meinen heute nicht nur: „Wenige Regeln, Vieles treiben lassen, der Markt reguliert sich von selbst“, sondern auch: „Demokratie, Freiheit und Wohlstand müssen permanent erarbeitet, Fehlentwicklungen müssen rechtzeitig Grenzen gesetzt werden“. Durch wen und in welchem Umfang? Seitens einer moralischen Instanz, die sich ihre Autorität durch rational-argumentative Begründung (anstatt populistischer Überzeugungskunst oder gar mittels Gewalt) auf Basis von in breitem Ausmaß als gerecht empfundenen und akzeptierten Normen verschafft. Für eine komplexe Gesellschaft bedeutet dies als Grundbedingung freilich fundierte Wissensvermittlung (d.h.: Abkehr vom Boulevard- und Talkshow-Niveau), der vorbehaltlose und zudem lebenslange Bildungsbereitschaft gegenübersteht.

Dr. Alfred Grof,
Richter am Verwaltungsgericht
des Landes Oberösterreich

1 Vgl. einerseits den von der Direktion Bildung und Gesellschaft des Amtes der Oö. Landesregierung erstellten „Wertekompass Oberösterreich – Orientierungsrahmen zur Weiterbildung an OÖ Kindergärten und Schulen“, in dem die folgende „Grundwerte“ als zentral apostrophiert werden: (1) Humanistisches Menschenbild, (2) Gleichberechtigung, Toleranz und Respekt, (3) Persönliche Freiheit, Verantwortung, Solidarität, (4) Mündigkeit und Demokratie, (5) Rechtssicherheit und Rechtsstaat, (6) Bildungsbereitschaft und kulturelle Begegnung sowie (7) Mensch und Natur; und andererseits die vom Österreichischen Integrationsfonds und der Österreichischen Bischofskonferenz herausgegebene Broschüre „Grüß Gott in Österreich – Eine Einführung in ein Land mit christlichen Wurzeln“, in der (1) die christliche Grundhaltung als Archetyp von Menschenwürde, Nächstenliebe und prägendem Sozialverhalten, (2) die Bibel und das Kreuz als Grundlage für Gottes- und Jenseitsglaube und (3) die Kirchen als weltliche Realisation des Christentums sowie als Orte des Feierns, Dankens und Bittens betont werden.

2 Als solche ist nach wie vor das „Bundes Verfassungsgesetz 1920“ (B VG) anzusehen, mit dem in Wahrheit – abgesehen von demokratisch-präsidentieller Strukturierung – die tragenden Grundlagen der konstitutionellen Monarchie fortgeschrieben wurden, die bis in die Gegenwart hereinreichen.

3 Gemeint ist das seit 150 Jahren in Geltung stehende „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“; mangels politischer Kompromissfähigkeit ist dieser essentielle Teil der Verfassungsgebung zwischenzeitlich in weiten Teilen auf supranationale Organisationen übergegangen.

4 Dieser formalistische, nicht nach „Gerechtigkeit“ als zentralem Wertungsprinzip fragende Zugang vereinfacht zwar den Begründungsaufwand und damit die praktische Handhabung, bildet aber bis heute das maßgebliche Hindernis dafür, dass Recht und Rechtswissenschaft in Gelehrtenkreisen gleichsam kaum ernst genommen (geschweige denn als ebenbürtig angesehen) werden.

5 Neben den biologisch-genetischen Konstituierungs- bzw. Differenzierungsmerkmalen zählen dazu als weitere Grundkomponenten vor allem Vernunftbegabtheit und Vernunftgebrauch einerseits – vgl. dazu bspw. Thomas Metzinger, Anthropologie und Kognitionswissenschaft (http://www.philosophie.uni-mainz.de/metzinger/publikationen/1996q.html) – sowie Sozialisation andererseits.

6 Die eigentliche etymologische Bedeutung des Begriffes „Religion“.

7 In Anlehnung an den „homo-mensura“-Satz von Protagoras.

Artikel aus der PetrA-Ausgabe April 2017

Der Verein der Petriner Absolventinnen und Absolventen - kurz PetrA - fördert den gemeinsamen Kontakt und freundschaftliche Beziehungen zwischen ehemaligen Schülerinnen und Schülern des Bischöflichen Gymnasiums Petrinum in Linz. Dies geschieht durch die Publikation der Vereinszeitung, das Treffen bei gemeinsamen Veranstaltungen und die Organisation von Reisen.

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